Sollte man schlafende Tiger wecken?

| Bujinkan

Oder vielmehr: Was braucht es, um einen Tiger niederzuschlagen? Über 40 Seminarteilnehmer hatten am 16. und 17. September in unserem Partnerdōjō in Puchheim die Gelegenheit, eine Antwort darauf zu finden.

Dōjōleiter Stefan Steiner führte zusammen mit Gasttrainer Daniel Lauk aus der Schweiz durch die Grundlagen der Kōtō Ryū Kōppōjutsu – einer Kampfkunstschule mit Ursprüngen im 7. Jahrhundert. Eingebettet ins Bujinkan-System ist sie spezialisiert auf den Kampf auf engem Raum und lehrt direkte, kurze und damit schnelle Bewegungen mit hoher Effizienz. Oft kommt die Metapher einer Schiebetür auf: Erst den Gegner nah ranlassen, um den Gegner dann von sich wegzubringen. Typisch für die Kōtō ist auch eine gehörige Portion Offensive. Kein Wunder, wird sie doch auch wörtlich übersetzt mit „den Tiger niederschlagende Schule“.

An einem sonnigen Samstagvormittag stiegen wir humorvoll ein, mit einer Aufwärmübung, die mit ihrer Innen- und Außenrotation an den Charleston-Tanz erinnert. Später würden wir sehen, dass dies schon eine Vorbereitung für die schultypischen Richtungswechsel auf der Stelle war. Aber später dazu mehr. Auf das stramme Programm des Tages ging es für einige Auserwählte noch etwas weiter. Es gab Prüfungen abzulegen – Prüfungen, die die beiden Kandidaten mit Bravour bestanden und die Anwesenden durch herausragende Leistungen überraschen konnten. Und das unter besonderen Umständen, denn an diesem Seminar nahmen insgesamt 7 Lehrer teil, die gemeinsam die Prüfung abnahmen. Eine besondere Bestätigung für die erfolgreichen Prüflinge – aber auch für deren Lehrer. Danach ließen wir erschöpft aber durchaus zufrieden den ersten Tag bei einem gemeinsamen Essen ausklingen. Am Sonntag ging es trotz schwerer Glieder munter weiter: Das anspruchsvolle Programm erforderte bis zum Schluss hohe Konzentration, Resilienz und Ausdauer.

Insgesamt trainierten wir alle 18 Techniken des ersten Level der Kōtō Ryū. Es blieb auch Zeit für einige Henkas – Technikalternativen und -variationen, die wichtige Aspekte der Grundform beleuchten. Die Lehrer verankerten viele der Techniken mit realitätsnahen Anwendungen, führten im Wechselspiel durch typische Fallstricke, die es zu vermeiden galt (Stichwort: Schutzhaltung), und demonstrierten die Arbeit mit Finten. Wir lernten: Finten funktionieren nur dann, wenn man selbst an sie glaubt!

Für jede Erfahrungsstufe war etwas dabei. Anfänger bekamen einen umfassenden Einblick in die Techniken und ein Gefühl für die Eigenheiten der Kōtō Ryū. Veteranen konnten ihre Techniken verfeinern und Aufzeichnungen ergänzen. Trainiert wurde in wechselnden Dreiergruppen, was Abwechslung bot, Zeit für eigene Notizen ließ und nicht zuletzt die eine oder andere – nötige – Verschnaufpause brachte.

Mit fortschreitender Seminardauer wurde die Essenz der Kōtō Ryū immer sichtbarer. Es wird viel Wert auf Ursache und Wirkung gelegt. Jede Aktion hat ihren Zweck, und der ist meistens, den Angreifer zu destabilisieren, um dann wuchtig klare Verhältnisse zu schaffen.

Nach dem Seminar kann nun die Ausgangsfrage so beantwortet werden: Es braucht Mut und eine gewisse Kaltschnäuzigkeit, um sich einem Tiger erfolgreich entgegenzustellen. Um im Angesicht der Angst trotzdem zu bestehen und sogar Gegendruck zu erzeugen, ihn sogar niederzuschlagen. Diesen Mut kann man in sich kultivieren – durch ständiges Training, durch wachsendes Vertrauen in die Techniken und die eigenen Fähigkeiten. So findet man auch in Momenten von hohem Stress und Aggressivität innere Ruhe.

Antonio Merker